Technik

Wunderpille Künstliche Intelligenz

Innovationen sind für die Pharmaindustrie besonders wichtig. Sei es, weil begrenzte Patentlaufzeiten sie ständig vorwärtstreiben, oder sei es, weil Geschehnisse vom Schlage Covid-19 sie epochal herausfordern. Big Data und KI sind gerade dabei, die Branche nicht nur auf diesen Feldern zu revolutionieren.

Die Spanne von der Idee bis zu Zulassung eines Medikaments dauert in etwa so lange wie die komplette Kindheit eines Menschen: 13 Jahre. Was auf den ersten Blick als lange Zeit erscheint, ist jedoch bei Licht besehen fast ein Wunder an Tempo. Denn die Medikamentenentwicklung gleicht einer Mission impossible. Bis ein Wirkstoff infrage kommt, muss er eine komplexe Kombination an Eigenschaften unter Beweis stellen. So muss er an den Krankheitsherd gelangen, ohne vorher im Körper abgebaut zu werden. Er muss sich mit ausgesuchten, für das Gesundheitsproblem ausschlaggebenden Molekülen verbinden und sie je nach Krankheitsfall an- oder abschalten. Er muss bei Überdosierungen und für Embryonen unbedenklich sein. Er muss später wieder ausgeschieden werden können. Er muss ohne unvertretbare Nebenwirkungen oder Wechselwirkungen arbeiten. Und nicht zuletzt muss seine Herstellung zuverlässig und in großem Stil möglich sein. Es wundert deswegen nicht, dass es von den 5.000 bis 10.000 Substanzen, die am Anfang eines Forschungsprojekts stehen, durchschnittlich nur eine einzige zur Zulassung schafft.

Wie langwierig und ressourcenintensiv dieser Prozess ist, blieb den meisten bislang verborgen. Die sensationell schnelle Entwicklung von Impfstoffen gegen Covid-19 dagegen hat diese Herkulesaufgabe vielen vor Augen geführt. Forscherteams vernetzten sich weltweit, um in kürzester Zeit die Wirkung von Milliarden Molekülen zu testen – ein Unterfangen, das mit Laborexperimenten und konventionellen Computersimulationen nicht zu schaffen gewesen wäre. Vielmehr brauchte es die Hilfe von Big Data und Künstlicher Intelligenz, um diese rasante Suche nach der Nadel im Heuhaufen zu bewerkstelligen.

Algorithmen als Molekül-Versteher

Dank diesen Zukunftstechnologien können relevante Muster in einem Meer von Daten entdeckt, Hypothesen schneller entwickelt und in der Folge besser überprüft werden. Insbesondere KI-Methoden wie Maschinelles Lernen oder Deep Learning haben bei der Erforschung von Medikamenten gegen Covid-19 Bahnbrechendes geleistet. Anhand von Datenbanken, auf denen zum Teil Hunderte Millionen von Korrelationen gespeichert sind, lernen Algorithmen, wie sich Moleküle verhalten. So können sie aufgrund künstlicher neuronaler Netze, mit denen sie die menschliche Informationsverarbeitung imitieren, eigenständig berechnen, ob ein Wirkstoff in der Lage ist, Proteine des Coronavirus zu blockieren. Auf diese Weise revolutioniert KI nahezu alle Phasen der Entwicklung von Arzneien. Nicht nur, dass sie die Suche nach dem richtigen Molekül auf eine virtuelle und somit völlig neue Ebene hebt; auch die Evaluation von Risiken, die Kontrolle der Verstoffwechselung oder die klinische Testung neuer Wirkstoffe werden durch KI-Algorithmen entschieden effizienter und zuverlässiger. Was letztere betrifft, helfen sie beispielsweise bei der exakten Identifikation von Probanden und können sogar prognostizieren, wie treu Testpersonen einer Therapie bleiben.

Darüber hinaus sind sie von Nutzen bei der Diagnose der Krankheit, der Bestimmung besonders gefährdeter Menschen, der Einschätzung von Gegenmaßnahmen oder bei der Prognose der Ausbreitung. Ein Beispiel dafür ist die KI-Software Insights der kanadischen Forma Bluedot. Sie warnte schon Ende Dezember 2019 vor dem Corona-Virus, noch bevor in China sein Ausbruch bekannt gegeben wurde. Möglich war dies durch die Eigenschaft des Programms, kontinuierlich Hundertausende von Quellen in 65 Sprachen zu scannen – vom Regierungs-Bulletin bis zum Blog am Rande. Dabei hatte Insight Hinweise auf eine neue schwere Lungenkrankheit in der Stadt Wuhan gefunden. Und nicht nur das. Bei der Beobachtung von Buchungsdaten erkannte die Software auch, dass Flüge von Wuhan nach Tokio, Seoul und Bangkok besonders gefragt waren und sagte für diese Städte weitere Coronafälle voraus – Coronafälle, die knapp zwei Wochen später tatsächlich eintraten.

Das Fundament der KI-Revolution bildet nicht nur die schiere Menge an Daten. Mehr noch ist es deren Qualität, die für das Training der KI-Systeme den Ausschlag gibt. Das gilt gerade in der Medikamentenforschung. Vor dem Hintergrund, dass neun von zehn der mehr als 650 Pharmaunternehmen in Deutschland kleine und mittelständische Unternehmen mit begrenzten Mitteln sind, wurden spezielle Datenplattformen für die Spitzenforschung geschaffen, auf die unterschiedliche, miteinander vernetzte Akteure Zugriff haben. Ein Beispiel ist das europaweite Projekt EU-Openscreen mit dem Herzstück einer Datenbank, in der Daten von rund 140.000 chemischen Verbindungen abgerufen werden können.

Gesundes Wachstum in jedem Markt

Damit dies reibungslos funktioniert, ist die Branche auf eine weitere Voraussetzung angewiesen. Die Rede ist von einer gigantischen Rechenkraft, wie sie von Datacentern klassischen Zuschnitts mittlerweile weder inhouse noch in Form gängiger Co-Location-Anbieter effizient geliefert werden kann. Vielmehr kommen heute zunehmend Unternehmen wie die deutsche Northern Data AG zum Zug. Die Frankfurter haben sich auf sogenanntes High Performance-Computing spezialisiert und agieren ähnlich international, flexibel und vernetzt wie die Pharmaindustrie. In Form eines Distributed-Computing-Clusters verteilen sich ihre Standorte auf die Niederlande, Kanada, Deutschland und Skandinavien: Abertausende von Hochleistungscomputern, die in Echtzeit Milliarden von Daten unter maximaler Stabilität verarbeiten. Sie kooperieren miteinander insbesondere durch eine firmeneigene Künstliche Intelligenz, mit der die Hardware gesteuert, überwacht und gewartet wird und somit jederzeit zuverlässig am Leistungsoptimum arbeitet.

So macht High Performance-Computing KI und Big Data zu potenten Tools und trägt dazu bei, dass die Pharmazie immer innovativer und konkurrenzfähiger wird. Was sie auch muss: Aufgrund begrenzter Patentlaufzeiten unterliegt sie besonders dem Zwang zur kontinuierlichen Entwicklung neuer Wirkstoffe. Dazu kommen Faktoren wie höhere Anforderungen der Regulierungsbehörden, die Verschiebung von Absatzmärkten, eine sinkende Kundenloyalität oder der Markteintritt neuer Wettbewerber wie beispielsweise Biotechs mit speziellen Geschäftsmodellen. Mit Big Data und KI können Pharmaunternehmen wieder Vorreiter bei neuen Arzneien werden, bei Preisverhandlungen mit Behörden differenzierter argumentieren und dank einer verbesserten Wettbewerbsbeobachtung an Entscheidungsstärke gewinnen. Und das alles sogar bei geringeren Kosten.